wenige sätze zu hans fallada
fallada ist der ernstfall. ein leben, das nicht zu überleben war. ein leben, das man nicht gelebt haben möchte.
die sehnsucht nach bürgerlichkeit konterkariert vom inneren chaos, von der sucht und der geilheit.
seine romane sind alle übervoll gesättigt durch die eigene biographie.
psychiatrie, knast, verbannung auf dem lande, eine leiche im keller, veruntreutes geld, weiber und suff. es scheint, ihm ist nichts mehr fremd. lebenserfahrungen, ziehbrunnentief, aus denen er zu tage fördert.
intuitiv reagiert er, und registriert dabei sehr genau auch die politischen veränderungen. reflektion durch teilnahme. im kleinen sucht er die großen zusammenhänge und findet sie.
er hat humor, sprachwitz und eine innere zuneigung zu den menschen.
er ist unmodern. er ist lebendig.
september 2011
peter weiss
peter weiss, so dachte ich manchmal, hat sich verloren in den grabenkämpfen des zwanzigsten jahrhunderts und in der sprache des kalten krieges. aufgerieben zwischen den eigenen und fremden ansprüchen war er ein heimatloser, ein wanderer in den eigenen und in den von der politik und kapital zugerichteten welten.
daraus mußte ein bruch entstehen mit scharfem grat, der die haut aufreißt, wenn man an ihm entlang fährt. diese risse hat peter weiss zu seinem späten thema gemacht, immer in der hoffnung, dass eine gerechtere welt möglich ist.
peter weiss hat sich nicht verloren, sondern sich gesucht, erfunden und wiedergefunden in seinen figuren des marat oder hölderlin. der ewige emigrant blieb zeitlebens auf der suche nach identifikation und identität. („was ist unsere beziehung zur kunst, musik, literatur, anderes als das arsenal, das wir in uns haben, oder ein reservoir von dingen, aus denen wir ständig unsere erfahrungen aktualisieren können? und zwar aus allen zeitaltern; das ist ja das großartige der kunst." peter weiss)
erst in der lebensmitte öffentlich wahrgenommen, sah er sich unter zeitdruck.
wichtig sind mir die notizbücher, in denen er zwischen der erzählung von nächtlichem traum und tagesrealität wechselt.
das letzte lebensjahrzehnt arbeitete er ununterbrochen an seiner „ästhetik des widerstandes“.
peter weiss starb am 10. mai 1982.
april 2011
stottern und schreien (zu einar schleef)
immer laufen und stolpern. dann singen und rufen. immer schreiben und hören. dann weinen und schweigen. immer hocken und festhalten. dann frieren und zittern. immer brechen und schlagen. dann lieben und verlassen. immer kindermachen und sterben. dann stottern und schreien. immer stehen und tanzen. dann schwärzen und weißen. immer holen und tragen. dann trinken und kauen. immer leeren und kratzen. dann graben und werfen. immer fangen und rudern. dann fliehen und sammeln. immer waschen und trocknen. dann fallen und stürzen. immer reißen und falten. dann malen und schwimmen. immer brennen und zudecken. dann öffnen und schließen. immer fortgehen und winken. dann immer. immer dann. immer immer.
januar 2013
beim lesen von hermann broch
wer ist dieser schriftsteller, dieser überintellektuelle, in der mathematik ebenso zu haus wie in der psychologie, philosophie und literatur? eine art universalgelehrter im zwanzigsten jahrhundert mit übergreifender, auf das humanistische zielender verantwortungsübernahme? erkennen und handeln.
er breitet in seinem „tod des vergil“ einen merkwürdigen klangteppich aus. die niedergeschriebenen endlosschleifen des sterbenden schriftstellers sind die endlosschleifen im denken und sprechen des menschen broch, aufgeladen mit einem hohen, weihevollen ton. der versuch die eigene endliche existenz mit dem unendlichen zu verkoppeln. nur schwierig kann man dem im wortsinn und wortinhalt folgen, man kann sich nur fallen, treiben lassen durch diese anrufungen, beschwörungen, erweiterungen, verengungen, in ein leises nach innen gerichtetes sprechen, in diesen seltsamen sog von bedeutsamkeiten.
man spürt das nachlassen der eigenen willenskraft, vielleicht wie bei einem langen ritualisierten gebet, das man mit anhört, aber nicht selber spricht. oder spricht man nach einer weile auch selbst?
auf der anderen seite gibt es aber auch das gefühl der sättigung, ein widerstreben. es ist zu viel, es ist mir zu viel.
auch broch reicht es manchmal, abrupt bricht er sein erhabenheitspathos. plötzlich setzt er einen dialog der straße dazwischen. figuren der gosse, stark und primitiv, mit dem gestank von schweiß und geilheit. dialoge und kurze szenen, in denen spannung stockt und arbeitet, in denen sich druck entlädt, in denen sich die langen, kompliziert gebauten sätze auflösen zu kurzen gerufenen sprachbrücken, zu einem sprachbellen zwischen den personen.
in der alten ausgabe des buches fand sich ein zeitungsartikel, hineingetan vom vorbesitzer, mit der überschrift „hermann broch und seine redlichkeit“. ein artikel aus dem jahre 1961 von friedrich torberg.
dort heißt es, den schriftsteller selbst zitierend, sein leben stand unter dem stern und unstern der grenzenlosen hingabe an „die letzte anstrengung des traums, der sich selbst erweckt und seine grenze erkennt“. und weiter schreibt friedrich torberg: „broch seinerseits betrieb die suche nach einem haltbaren wertsystem in einer vom wertezerfall geschüttelten welt mit schmerzhafter direktheit. er betrieb sie vom ausgangspunkt freud wie vom ausgangspunkt einstein her, er betrieb sie mit den mitteln der erkenntnistheorie wie mit denen der logistik, es war ihm nichts zuviel und alles zu wenig.“.
zu broch kam ich über elias canetti, der ihn in seiner dreiteiligen autobiographie als frühen, äußerst wichtigen gesprächspartner im wien des beginnenden zwanzigsten jahrhunderts erwähnt. ein gesprächspartner, der damals in einem atemzug mit james joyce und robert musil genannt wird. in der öffentlichen wirkung hat canetti broch nun links überholt, von joyce und musil in ihrer gesteigerten wahrnehmung als jahrhundertfiguren gar nicht zu reden.
vertrieben durch den nationalsozialismus, mittellos, aber voller arbeitsvorhaben verbrachte hermann broch die letzten lebensjahre in amerika. „ein dichter wider willen“, wie ihn hannah arendt nennt, wollte er sich nun ganz wissenschaftlichen untersuchungen in der psychologie und mathematik widmen. äußere anlässe lassen ihn dann doch den roman „tod des vergil“, einen erzählband und den hofmannsthal-essay beenden.
der essay „hofmannsthal und seine zeit“ ist eine immens umfassende analyse der zeitumstände vor und nach der jahrhundertwende 1900 mit dem fokus auf österreich und seine hauptstadt. eine zeit, die broch als eine zeit des wertevakuums charakterisiert. aber vor allen dingen eine analyse von dichtung, der dichtung und der person hofmannsthals, seine bindung an diese zeit und seine loslösung von ihr. broch findet für die dezenz und die zurücknahme in der offenbarung von persönlichen im werk von hofmannsthal das schöne wort von der ich-verschwiegenheit.
ich-verschwiegenheit, wahrscheinlich gibt es dies im werk von hermann broch ebenso. und vielleicht war es sogar einer der gründe, die literatur an den nagel hängen zu wollen. den exhibitionismus unserer tage, kunstmarkt und lárt pour lárt hätte er verabscheut.
„und er wußte auch, daß das nämliche für die kunst zu gelten hat, daß sie desgleichen nur so weit besteht – oh, besteht sie noch, darf sie noch bestehen? – so weit sie eid und erkenntnis enthält, so weit sie menschenschicksal ist und seinsbewältigung, soweit sie sich am unbewältigten erneuert, …“
januar 2014
zu ulrich zieger „durchzug eines regenbandes“
nun habe ich ziegers letzten romangruß gelesen, dessen teile, wie drei kunstvolle kettenglieder nebeneinanderliegen, da sich ihre unterschiedliche größe und beschaffenheit nicht zum verbund fügen wollen.
es ist ein weltbild im kleinen winkel, ausgestattet mit ulrich ziegers tiefer kenntnis vom nachbar und übermieter, vom unbewussten untermieter, von frau und kind, mit seiner verkettung von möglichkeiten und unmöglichkeiten, mit der skalpierung des zeitgeistes, mit dem fahnenschwingen, dem taschentuchschwingen, dem verrat, dem langsamen verfall, der endzeit, der tristesse ohne hintertür, dem besäufnis und chapeau.
was vielleicht für die heute zweijährigen späteren leser ein problem werden könnte, ist die sättigung mit bruchstücken von schlager und die reihung von namen von heroen einer hitparade, die den grabstein schon vor den lautsprecher gesetzt bekam. wird man ihnen nicht vorsingen müssen, dass marmor, stein und eisen bricht.
es ist eine mäandernde ungebremste sprechlust, ein auf- und absteigen in ungekannten terrain, halluzinationen, tagträume, seltsame wendungen, urknall und seine entladung, brechung und schieflage und der durchzug eines regenbandes.
danke ulrich zieger.
april 2016
der zeichner john
der zeichner joachim john, der inzwischen mit dem blick von alter und zeit von der mecklenburger landschaft über die welt mit ihren politischen kratern, den historischen vernarbungen von schuld und den abgründen menschlicher gewalt schaut, fand in den letzten jahren zu neuen lösungen in seinen zeichnerischen blättern. losgelöst von den gravitationskräften schweben seine bilderfindungen und figuren in einem raum, der nur der zeichnung gehört. die arbeiten leben von variation, von wiederholung und motivverkettungen, die eine zeitliche und räumliche abwicklung von gedanken andeuten und die den betrachter durch das bild führen.
november 2016
michael kutzner
der künstler michael kutzner malt aus einer problemlage heraus, die kein gefallen sucht. neben dem motiv ist es vor allem die art des malens, die farbe und leinwand so zurichtet, dass die luft zum atmen dünner wird. die eigene rücksichtslosigkeit gegenüber seinen pappen und anderen bildträgern erzählt wohl nicht nur von einer verschärften vergänglichkeitsperspektive, sondern auch von verweigerung gegenüber der marktmechanik. neben der malerei gab und gibt es eine stete auseinandersetzung mit der zeichnung, die die anlässe und motive seiner bilder vorbereitet oder spielerisch umformt. kutzners ganz eigener blick auf den stadtraum lebt von der melancholie und einsamkeit heutiger urbanität.
november 2016
armando
vielleicht bildet die lastende statik der massen, die keinen aufbruch oder abbruch, die keine bewegung in den raum andeutet, sondern stilles, schweres, verschlossenes gegenüber bleibt, den eigentlichen kern dieser arbeiten. vielleicht auch nicht.
juli 2017
besuch bei morgner
ein haus auf dem berg, eingeduckt in rhododendronbüsche und hohe bäume.
ein schwarzer tuscheboden, pappe und das farbige grau einer ausgewaschenen pinselspur.
in körben befinden sich schmutzige kugeln in der farbe von stadtwinterschnee aus den resten des papiers. sie bilden einen vorrat altertümlicher munition.
schwarzwasser läuft in der mitte in einen abfluss.
aus dem verbrauch vom abraum und der stückung und dem verschnitt der vergangenen wege aus vier jahrzehnten entstehen schmale relieftafeln mit umriss und gegenform.
das graben in die dunkelheit und das zuschütten des lichtes schaffen einen grund, aus dem figuren auftauchen, in den zeichen eingesenkt werden.
der wechsel von graben und zuschütten bleibt eine handlung im vergehen der zeit, ist nacht- und tagewerk.
august 2017
gert neumann
er öffnete die tür und begrüßte mich mit „monsieur“, da hatte er eine leichtigkeit, die ich nicht erwartet hatte nach dem flüchtigen eindruck seiner person bei anderem anlass.
dann ging er den flur hindurch und wies auf die sessel, das wirkte wieder schwer, langsam, auch hinfällig.
im reden gebrauchte er oft das wort „konzentration“. nun kam er mir vor wie ein stein. bearbeitet, ein kern, den er aus sich selbst gehauen hatte.
das profil hatte mehr stärke, als wenn er mir frontal ins gesicht sah.
er schied genau zwischen realität und wirklichkeit. mit beharrlichkeit verweigert er den zutritt von erscheinungen.
er sucht sich freunde in büchern und schreibt briefstücke, deren empfänger er ist.
er weiß, dass die worte ihm etwas erzählen, nicht er mit den worten. und dass ein gespräch immer zwei gespräche sind, eins nur im jeweils anderen.
so führten wir durch die worte zwei gespräche, die sich über den zeichnungen und texten, die auf dem tisch lagen, trafen.
juli 2017
tranströmer und gustafsson
der endlose sommer war begleitet von zwei schwedischen autoren – tomas tranströmer und lars gustafsson. zwei, die sich kannten. einer generation entstammend. beide wohnten zu verschiedenen zeiten in einer kleinen stadt namens västeras, die ungefähr 100km von stockholm entfernt liegt.
tranströmers werk passt in zwei schmale bände. in dem einen findet sich die gesamtausgabe seiner gedichte. der andere band beherbergt knappe unaufgeregte, autobiographische skizzen.
jeweils ein porträt des schriftstellers ist auf den bucheinbänden abgebildet. einmal ein jugendfoto, auf dem ein introvertierter junger mann zu sehen ist, der sich an die wand des zimmers lehnt. vermutlich sitzend. sein blick ist gesenkt. auf dem zweiten bild, das tranströmer mit ungefähr 60 jahren zeigt, lehnt er sich wieder an eine wand, stützt sich etwas ungelenk auf einen fenstersims. eine etwas scheue offenheit liegt in dem blick, der auf den fotografen gerichtet ist.
tranströmer, dessen habitus verhalten wirkt, sein nach innen gerichteter blick ist keine abgrenzung, hat eine sensorik, die auf kleine, unhörbare impulse im innen und außen reagiert. seine adern gehen weiter als bis an das ende der gliedmaßen. gewissermaßen gereinigt von der sich aufdrängenden aktuellen realität bleiben seine gedichte über der zeit hängen. wortanker, die bei einem eigenen fluchtversuch helfen können.
lars gustafsson ist konvertit aus innerer neigung und intellektuellem interesse. er wechselt landschaft, farbe, tempo und temperatur seines dichtens und erzählens, wie er als person land und religion, kinder und frau wechselt. er möchte mehrere, er möchte auch ein anderer sein können. er lässt eine seiner figuren, die malerin g. in „sigismund“ in einem handel mit dem teufel, um folgendes bitten: „- ich möchte so gern, …, wenigstens für vierundzwanzig stunden meines lebens ein anderer mensch sein.“ warum? „weil ich glaube, daß ich auf diese weise mehr über die geschichte und über mein eigenes leben lernen könnte als durch irgend etwas anderes.“
gustafsson ist in diesem „ich bin viele“ paul valéry verwandt, der jedoch in seinem schreiben hermetischer und schweigsamer ist.
gustafsson schreibt viel, er wechselt unabhängig und frei stilmittel und erzählweise. er fabuliert, er erlaubt sich aussetzer und große sprünge. er hat seinen spaß.
september 2018
beethoven
beethoven setzt seine klangschütte in gang. beethoven kann nicht hören. stille ist seine krankheit.
beethoven trägt auf den schultern ein kind, dessen gesicht ein jahrhundert älter ist als er.
beethoven stößt sich am himmel und steckt in der erde.
beethoven hat sein bett neben dem flügel.
beethoven pfeift ein lied, das jeder kennt.
beethoven hat ein loch in der hose. beethoven masturbiert nur am sonntag. beethoven ist einsam.
beethoven hat viel besuch, als er tot ist. besser mit einem toten reden als mit einem tauben.
beethoven ist eine russische ikone. beethoven hat einen heiligenschein. beethoven ist ein abziehbild. beethoven ist ein siebdruck. beethoven ist shakespeare und lenin. beethoven hat immer geburtstag.
oktober 2019
schwontkowski
schwontkowski ist gestorben.
schwontkowski hat sich eine brille mit milchglas anfertigen lassen. die setzt er immer auf, wenn dunst und sprühregen fehlen.
schwontkowski würde nie nach nizza reisen.
schwontkowski wohnt in bremen.
schwontkowski liebt charlie chaplin.
schwontkowski besitzt einen röhrenfernseher.
schwontkowski raucht um des rauches willen.
rauch, smog, nebel und abgase brechen das licht, wie die dämmerung das tageslicht bricht.
schwontkowski ist ein zwielichtsucher.
im zwielicht summt er das wanderlied seiner melancholie.
schwontkowski summt und rollt auf einer abschüssigen straße einen alten reifen. der reifen rollt ihm davon und verschwindet im dunkel der tallage.
schwontkowski beißt auf einen stein.
schwonkowski klettert einen mast hoch.
schwontkowski klaut ein fahrrad und fährt dem reifen nach.
man sieht ein verglimmendes rotes rücklicht und eine helle hand, die aus der nacht ragt und winkt.
schwontkowski hat als grabstein einen schornstein.
handgeschrieben steht da drauf: 1949-2013.
juli 2020
tomas espedal
die ewigkeit im augenblick (dostojewski)
espedal ist ein privilegierter. das sagt er selbst. sein privileg ist das privileg eines autonomen künstlerlebens. eine unabhängigkeit, die gleichzeitig eine verantwortung und kraft braucht, um eine balance und einheit von leben und arbeit zu finden, die produktiv bleibt und vor manierismen schützt.
espedals thema ist die bewegung der eigenen existenz in der zeit und im raum, in einem geistigen raum, wie auch ganz wörtlich, im raum des wohnhauses, im raum des landstrichs, im raum, der bei wanderungen durchschritten wird. die bewegung einer existenz belegt durch den fortgang des schreibens, des aufschreibens, des notierens, des registrierens von ausschlägen in emotion, reflektion und erinnerung als ekg des eigenen lebens. espedal baut seine texte, wie einen nach allen seiten offenen turm, von dem man auf seine wege und die seiner familie schaut. auf seine familie bezogen, ist es eigentlich oft kein erinnern und nachforschen einer person, denn espedal begibt sich in seine voreltern und ahnen hinein, als wäre er kein nachkomme, sondern hätte mit ihnen gelebt.
dass espedal in seinem buch „gehen“ den bildhauer alberto giacometti erwähnt, verwundert nicht. giacometti, konzentriert auf sein nahes umfeld, zeigt in seinen plastiken menschen, die biografisch eng mit ihm verbunden waren. seinen arbeiten ist der fortgang der existenz, die vergänglichkeitsperspektive und das motiv der bewegung eingeschrieben, wie den texten von tomas espedal.
espedals literatur ist fragmentiert und sprunghaft. er erzählt nicht. oder vielleicht besser, er spielt ab und an mit den möglichkeiten des erzählens, einer erzählung, um den beginn dann wieder zu verlassen. das verlassen und das verlassen werden ist inhaltlich für alle bücher espedals bestimmend. das verlassen erfasst auch strukturell espedals werkansatz, in dem er jeweils die einmal gefundene organisationsmöglichkeit von textmaterial des vorhergehenden buches beim nächsten wieder aufgibt.
er notiert. seine notizen setzt er zu einem kaleidoskop von farbigen splittern zusammen, deren anmutung von leichtigkeit täglich neu erarbeitet ist.
espedals schreiben ist bestimmt von einer dankbarkeit gegenüber dem leben, den frauen, dem licht, den gesprächen und seinen möglichkeiten sich auszudrücken.
espedals bücher sind unmodern in dem sinne, dass sie sich in fast keiner weise an den diskussionen über die aktuellen themen der gesellschaft beteiligen. die probleme der verschmutzung der umwelt, der armut, des rassismus tauchen im hauptstrom der texte nur im seitlichen augenwinkel auf. dementsprechend hermetisch verhält sich espedal gegenüber den ansprüchen einer zunehmend moralisierenden und pädagogisch argumentierenden front, der die kunst wieder waffe ist.
februar 2022
zu den theaterplakaten von bernd frank
bernd frank fand über umwege an die berliner volksbühne. das theater hatte ihn früh interessiert. eigentlich wollte er sogar schauspieler werden. anfangs nur für kleinere gestalterische aufgaben am theater engagiert, wird er über die jahre und ein zusätzliches externes studium an der kunsthochschule berlin weißensee zum hausgrafiker der volksbühne.
die berliner volksbühne ist ein theaterhaus mit einer geschichte von über 130 jahren. zentral in der stadtmitte in einem bau von pathosbeladener wucht und massigkeit, die durch verschiedene architektonische veränderungen noch zugespitzt wurde, hat sie eine unübersehbare präsenz im stadtraum. dementsprechend gab es immer auch eine starke rückkoppelung zwischen der gesellschaft und diesem theater, zwischen politik und bühne, zwischen theaterschaffenden und publikum. eine vermittlerrolle hatte auch das theaterplakat. „das plakat hatte die aufgabe, das stück auf die straße zu bringen.“, sagt bernd frank über seine arbeit.
in seinen plakaten finden sich eine spielerische strenge und eine offensive zurückhaltung. das sind in sich konträre wortpaare, die aber ganz gut beschreiben, was ich beim betrachten seiner arbeiten wahrnehme. oftmals werden figürliche oder naturhafte versatzstücke mit den grafischen zeichen der typografie so gefügt, dass eine art reibung entsteht. schrift bekommt dabei energie, sie drückt, schiebt, bewegt etwas. sie bedrängt kopf, hand und figurenausschnitte. die körperfragmente werden in einer parallelbewegung gleichermaßen abstrakt, flächen- und fleckhaft. aus dieser spannung beziehen die plakate ihre, wenn man so will, dramatische wirkung, als eine verknappte, eingedampfte übersetzung des stückes in eine grafische form, als eine botschaft für die straße.
mit dem von achim freyer entworfenen logo der volksbühne, einem rechten winkel für das v arbeitet frank wiederkehrend, aber frei, jedes mal individuell, solitär auf die gestaltung des jeweiligen plakates bezogen. obwohl so eigentlich eben jedes plakat eine jeweils auch neue erfindung beinhaltet, zeigen sie gerade im rückblick eine ganz eigene gemeinsame sprache. unterschiedlich in der nuancierung nutzt frank farbige akzente, die er in kontrast zum dominierenden schwarz-weiß setzt.
in den arbeiten zu stücken von heiner müller werden die mittel weiter reduziert. bernd frank findet hier eine gestalterische antwort auf müllers schonungslose intellektuelle klarheit. müllers fähigkeit aktuellste zeitmomente mit geschichte und mythos ad hoc kurzzuschließen, findet sich auch in seinen stücken, die den abraum der reflektion zu klaren formen und rhythmischen strukturen fügt. textbaustein und struktur bestimmen auch bernd franks müller-plakate, die das erzählende oder gar anekdotische absolut vermeiden.
wenn bernd frank über seine arbeit als plakatgestalter erzählt, betont er zum einen das handwerkliche seiner damaligen tätigkeit. es sei ein handwerk, ein gewerbe. einzelschaffender sei er gewesen. keine entfremdete arbeit. unabhängig von großen büros mit arbeitsteilung, wie es heute der fall sei.
auf dem boden, konkret oft auch in der späteren größe des plakates hätte er seine entwürfe entwickelt, collagiert, schrift gezeichnet, geschnitten, fotografien gerissen und überarbeitet. es wäre 1:1 seine gestalterische arbeit gewesen.
zum anderen erinnert er die wichtigkeit des austausches und die gespräche mit den regisseuren, dramaturgen und den schauspielern. das theater war mein lebensraum, sagte bernd frank in unserem gespräch im vorfeld der ausstellung seiner plakate.
september 2022
rolf szymanski
„die figur zu finden, die ihren ursprung sucht, ist der thematische stoff für die form.“, sagte rolf szymanski über seine eigene bildhauerei.
szymanski beschreibt das thema für die form seiner bildhauerischen arbeiten darin, etwas zu finden, dass den beginn, das prozesshafte und die entwicklung mit beinhaltet und ausdrückt. anfang und ende werden verknüpft. das schließt die erkenntnis ein, dass alle strukturen und gestalten, wie auch unsere wahrnehmungen einem steten wandel unterliegen. das ephemere, der vergehende augenblick bleibt so in seiner widersprüchlichkeit zum harten endmaterial der gegossenen plastiken, in den vom leib und der masse gedachten arbeiten szymanski als wesentliche erfahrung enthalten.
das wort „ursprung“ ist bei rolf szymanski mit unterschiedlicher bedeutung belegt. „zukunft braucht herkunft“ heißt eine seiner skulpturen. ursprung meint also herkunft, vergangenheit und geschichte.
zum anderen ist auf begriffe, wie idee, anfang, grund und wurzel ebenso verwiesen. alle bedeutungsebenen sind bei szymanski, der seine künstlerische arbeit auch beständig intellektuell mit dichtung, philosophie und geschichte verschränkt, als jeweils neu gefundene bildhauerische form realisiert.
„die skulptur hat außer ihren formanlässen die bedingung etwas auszufüllen, das man noch nicht wusste. die klumpen zu finden, die leben abgeben – das ist die utopie „transit vom material zur figur“.“, schreibt szymanski in einem brief an den grafiker klaus staeck.
auf interessante und eigenständige weise ist das fundstück, das dingfragment, für rolf szymanski eine stete formanregung und oft auch der beginn für die arbeit an einer figur. meist bringt es eine geschichte aus anderen zusammenhängen mit, wie der mehrmals verwendete große schwellennagel oder das schiffsteil, das die basis für die plastik „die öffentliche rose“ bildet.
szymanski ist siebzehnjährig bei kriegsende. er belädt seine figuren mit dem gewicht eines traumatisierten jahrhunderts. gerade seine frühen plastiken, wie die „frauen von messina“ und die gerade erwähnte skulptur „die öffentliche rose“ haben an einer last zu tragen, die die verkürzten beinstümpfe kaum halten können. gleichzeitig sind sie im aufbruch, gerade auch diesen figuren ist konträr des zu tragenden gewichts eine bewegung eingeschrieben.
basis, standfläche und fundament der skulpturen sind auch deren ursprung. dabei überschreitet szymanski ganz klar bestimmte traditionelle vorstellungen von plinthe und sockel. die standflächen sind komplex mit dem thema und der form der jeweiligen plastik verbunden.
sie bilden ein abgestecktes gebiet, einen schutzraum manchmal, wie sie auch eine möglichkeit sind, die figur in den umgebenden raum zu öffnen und zu überführen. zusätzlich überschreiten glieder und wucherungen die begrenzung der basis. sie greifen aus, wurzeln und verankern so die skulpturen in ganz realer weise in der umwelt, ermöglichen ein zur-welt-sein.
mai 2023
zu nicolas born
born war einer der wesentlichen autoren der siebziger jahre. er hatte eine präsenz in der westdeutschen literatur als lyriker und autor sowie als herausgeber, als freund und kritische stimme, bevor er im jahre 1979 im alter von 41 jahren zu früh verstarb.
was ihn herausnimmt aus der menge anderer autoren, ist seine weiträumigkeit trotz privater und intimer sicht. mit der wilden und politisierten zeit der endsechziger und siebziger jahre mit aufbruch, revolte und ernüchterung sind die entwicklung borns zum schriftsteller, wie auch die themen seines schreibens eng verbunden.
der literaturwissenschaftler klaus theweleit beschreibt die aufbruchsbewegung der achtundsechziger generation auch als eine suche nach einer eigenen sprache, die aus dem bruch des sprechens mit der elterngeneration, als absetzbewegung gegenüber dem verschweigen und den zumutungen von befehl und anweisung heraus notwendig war.
borns suche nach einer eigenen sprache als autor von gedichten und romanen vollzieht sich parallel zu der von theweleit angedeuteten aufbruchsbewegung. born kleinen verhältnissen im ruhrgebiet entstammend, lernt zunächst den beruf des chemigrafen, den er auch ausübt, jedoch versucht er sich neben der brotarbeit weiterzubilden, macht erste schreibversuche und nimmt kontakt zu schriftstellern auf. der lyriker ernst meister wird sein mentor, der auch zu ersten veröffentlichungen verhilft.
zugleich sieht born früh die zerstörungen in gesellschaft, natur und subjekt, die aus der freigelassenen eigendynamik des kapitals und dem verlautbarten und gelebten grenzenlosen wachstum entstehen.
die sammlung von aufsätzen und essays „die welt der maschine“, die erst nach seinem tod erschien, benannte schon ende der siebziger jahre alle wesentlichen fragen heutiger aktueller debatten um klimawandel, umweltzerstörung, technisierter bürokratie und der auswirkungen von digitalisierung und entfremdung.
born war als literat nie auf einem beobachterposten, in distanz, sondern er war im schreiben verwickelt, persönlich und emotional beteiligt. es gab da keinen schutz gegen die dünne haut.
es gibt eine welt-zugewandtheit, obwohl er das ländliche suchte, dabei einen unmodern gewordenen weltschmerz, den er durch ironie und das verzeichnen des glanzes des alltäglichen erträglicher machte. bei born kommen sich gedankliche klarheit und sensibilität nicht in die quere.
biografie und bewegung, geistige und körperliche, das verstreichen der zeit, das simultane, die verschränkungen von privatem und politischem, liebe und kiosk, das ausgeliefertsein vor fremden ansprüchen, alleinsein und einsam sein, natur, stadt, bedrohter lebensraum, lakonisch und leise sind die gedichte von nicolas born bestandsaufnahme und röntgenbild. sie sind wort- und bildanker in der hyperventilation der gegenwart.
august 2023